Gustav Mahler

«Symphonie Nr. 5 cis-Moll»
ORF Radio-Symphonieorchester Wien
Cornelius Meister

Bernd Feuchtner im Gespräch mit Cornelius Meister zum Ende seiner Zeit am Theater und Philharmonischen Orchester Heidelberg im Frühjahr 2012

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Feuchtner: Sie traten 2005 als der jüngste Generalmusikdirektor, also als Musikchef eines Theaters, in Deutschland an. Lag in diesem  Rekord auch ein geheimer Reiz bei der Bewerbung um die Position?

Meister: Angeblich war ich sogar der jüngste Bewerber. Als das Bewerbungsverfahren lief, habe ich es zunächst als Training betrachtet, wie solch ein Auswahlverfahren auf eine GMD-Stelle abläuft. Lange habe ich  nicht damit gerechnet, dass ich eine Chance haben würde. Als ich aber unter den letzten Acht und dann unter den letzten Drei war, musste ich mich ernsthaft damit beschäftigen, dass alles nun konkret wird. Schnell habe ich allerdings gemerkt, dass ich mich hier in Heidelberg wohlfühlen würde, und habe danngehofft, dass ich die Stelle bekommen würde. Dass ich, so sagte man mir, bei meiner Wahl der jüngste designierte GMD war, seit man rechnet und seit es diesen Titel gibt – war und übrigens auch immer noch bin: nach wie vor gibt es, glaube ich, keinen jüngeren –, das hat geholfen, die öffentliche Aufmerksamkeit zu steigern.

Mendelssohn war 24, als er in Düsseldorf als GMD antrat, Mahler war noch nicht einmal ganz 24, als er in Kassel die Stelle des Zweiten Kapellmeisters, Musik- und Chordirektors annahm.

CM: Das zeigt, dass man nicht nur in der heutigen Zeit, sondern auch in vergangenen Jahrhunderten den Jüngeren eine Chance gegeben hat. Wer aber nun ein paar Wochen jünger war als der andere, ist eigentlich egal, oder? Die Neubesetzung einer Dirigentenstelle in Heidelberg steht normalerweise nicht im Fokus der großen Zeitungen, von Radio und Fernsehen, aber wenn man irgendeinen Superlativ verkörpert – jüngster, schönster, größter oder was auch immer –, dann stürzen sich viele Medien schneller drauf, als wenn man äußerlich "normal" wäre. Das ist einerseits ganz furchtbar, aber in diesem Fall hat uns Theaterleute gefreut, dass die Öffentlichkeit bemerkt, was wir hier tun. Später galt es, all denjenigen, die kamen, weil es da etwas zu bestaunen gab – wir sind wieder beim Alter –, all denjenigen zu zeigen, dass man in Heidelberg spannendes Theater und mitreißende Konzerte geboten bekommt. Insofern: Ja, ein dirigierender Twen zu sein hat anfangs geholfen, aber es war nur der erste Schritt.

Warum hatten Sie bei Heidelberg das Gefühl, das könnte auch zum Wohlfühlen führen? Wäre das bei Bielefeld vielleicht so nicht der Fall gewesen?

CM: Mein Vater war gebürtiger Heidelberger, er liegt auf dem Handschuhsheimer Friedhof begraben, insofern hatte ich ein bisschen das Gefühl, zu den eigenen Wurzeln zurückzukehren, wenngleich ich in Heidelberg nie gelebt hatte und wir auch keine Verwandten mehr hier hatten. Mit meinem Vater war ich nur selten in Heidelberg gewesen, kannte die Stadt also eigentlich nicht gut, aber trotzdem fühlte ich mich mentalitätsmäßig durch ihn hier irgendwie heimisch. Meine Mutter kommt aus Karlsruhe. Von Hannover aus betrachtet – wo ich ja geboren bin und von 2003 bis 2005 Kapellmeister war –, sind Heidelberg und Karlsruhe fast dasselbe,  wenngleich sich die Badenser von den Kurpfälzern eigentlich deutlich unterscheiden. Als ich 2005 nach Heidelberg gezogen bin, habe ich schnell gemerkt, dass es hier möglich sein würde, einen echten Aufbruch zu starten. Es gab die seltene Situation, dass viele neue Positionen am Theater neu besetzt wurden. Der Intendant war neu, die Organisationsform war neu – die städtischen Ämter „Theater“ und „Philharmonisches Orchester“ wurden vereinigt –, und sowohl die alteingesessenen Heidelberger als auch die Neuen waren mit Feuereifer dabei, gemeinsam einen Aufbruch zu wagen. Am Haus kannte ich – mit zwei Ausnahmen, wenn ich mich recht erinnere – niemanden zuvor. Es ist ein großer Vorteil, wenn man als junger Vorgesetzter nicht vorher schon mit Einzelnen zusammen studiert hat oder sich vielleicht gar privat kennt, also mit einigen vertrauter ist als mit anderen. So kannte ich alle gleich lang und alle gleich gut. Auch in den späteren Jahren habe ich mich bemüht, diesen Fairnessgedanken gerade in Situationen, wenn man Vorgesetzter sein muss, aufrecht zu halten.

Außerdem hatte ich gespürt, dass Heidelberg, auch im Ausland, einen sehr guten Ruf hat. Gerade in Amerika oder Japan ist Heidelberg eine Legende: Wenn ich dort erzähle, dass ich in Heidelberg lebe, ernte ich häufig verzückte Blicke. Zu Recht! Ich bin mir sicher, dass die Kunst überall dort gute Voraussetzungen findet, wo das Umfeld, sprich: eine ursprüngliche Natur, eine gewisse Lebensfreude und eine schöne Stadt, zueinander passt. Ich habe mich als Musiker immer schwer getan an Orten, wo der Raum so überhaupt nichts mit Kunst zu tun hatte. Eine Inspiration für eine Brahms-Symphonie oder vielleicht für ein Mahler-Lied zu finden, wenn man an die Wand schaut und dort nichts sieht außer grauem Beton, fällt mir ausgesprochen schwer. Umso wichtiger ist es mir, in der Phase, wenn ich mir ein Werk als Interpret zu eigen mache, in inspirierender Umgebung zu sein – idealerweise in der Natur –, damit ich mich dann später in irgendeinem Aufnahmestudio daran zurückerinnern kann.

Wirkt auch in Wien die Atmosphäre der Stadt inspirierend?

CM: In Wien genieße ich das Privileg, regelmäßig Konzerte mit der Wiener Singakademie aufzuführen. Ich denke immer wieder daran, dass dies der Chor ist, den einst Johannes Brahms geleitet hat. Beinahe sämtliche Brahms-Werke für Chor und Orchester haben die Singakademie, das ORF Radio-Symphonieorchester und ich bereits gemeinsam aufgeführt. Im kommenden Jahr folgt „Ein deutsches Requiem“. Ähnliche Gedanken kommen mir auch bei einigen anderen Orchestern und Chören, aber auch in Konzertsälen. Als ich zum ersten Mal die Bühne des Wiener Musikvereins oder des Amsterdamer Concertgebouw betreten habe – das waren besondere Momente für mich.

Was hat sich in diesen sieben Jahren von den Erwartungen denn eingelöst? Was war wie erwartet und was ist ganz anders gewesen?

CM: Wir hatten das Glück, dass jede Spielzeit anders war. Es gab also nie eine Form von schlechter Routine. Die erste Spielzeit war allein schon deshalb besonders, da vieles neu war. Bereits in der zweiten Spielzeit wurde das Theater auf Anweisung der Oberbürgermeisterin geschlossen, und zwar genau an dem Tag zwischen Generalprobe und Premiere von Puccinis Oper „Madame Butterfly“. Ich erinnere mich gut, wie ein Rundruf vom Intendanzsekretariat ausging an den engsten Mitarbeiterkreis, dass wir, so schnell es irgend geht, alle in die Intendanz kommen sollen. Und alle kamen, egal wo sie gerade waren; eine schnelle Erreichbarkeit ist im Theater ein hohes Gut. Innerhalb von zwanzig, dreißig Minuten waren wir alle da und überlegten: Was machen wir, um die morgige Premiere zu retten? Wir haben an diesem Nachmittag meiner Erinnerung nach nicht darüber nachgedacht, was man langfristig macht und was die Situation in den nächsten Jahren für das Haus bedeuten würde, sondern einfach ganz praktisch: Morgen ist Butterfly-Premiere, wo spielen wir die? Uns war von Anfang an klar, dass wir alle Aufführungen spielen würden – egal wo –, solange die Städtische Bühne geschlossen sein würde.

Wir lassen uns nicht unterkriegen!

CM: Genau. Es war niemals die Frage: Spielen wir? Sondern vielmehr: Wo spielen wir? Da gab es natürlich eine ganze Reihe von Möglichkeiten, die aber nach und nach verworfen wurden. Schließlich sprachen wir über die Peterskirche in der Heidelberger Altstadt. Ich hatte in dieser Kirche am 20. August 2006 geheiratet – die Butterfly-Premiere war für den 26. Oktober angesetzt. So verband mich mit dieser Kirche eine enge und frische Erinnerung. Ich konnte mir gut vorstellen, dass man in solch einer besonderen Situation in einer Kirche Zuflucht sucht, und die ethischen Fragen, um die es bei „Madame Butterfly“ geht, sind dem Christentum nah.

Ich erinnere mich gut, dass in diesen Aufführungen – wir haben insgesamt vier oder fünf Aufführungen in der Peterskirche gespielt – der Kanonenschuss am Ende, wenn das Schiff von Pinkerton angekündigt wird, mit dem er zurückkommt, und den in der Peterskirche ein Schlagzeuger auf der Großen Trommel gespielt hat: dass dieser Kanonenschuss so tief ins Mark drang, wie ich das vorher und nachher nie wieder erlebt habe. Das hallte vom Altarraum einmal bis ans andere Ende der Kirche und wieder zurück mit einer immensen Zeitverzögerung, das war wirklich beeindruckend.

Es gab sogar viele Besucher, die sagten: Das war so beeindruckend in der Peterskirche, ich will das nie im Theater sehen.

CM: Ich spürte, wie eng das Theater zusammen steht, wie eng aber auch die ganze Stadt hinter ihrem Theater steht, was weit über eine normale Solidarität hinausgeht. Es war eine herzliche Verbundenheit, als hätte man den Heidelbergern plötzlich etwas von ihnen selbst weggenommen, indem das Theater geschlossen wurde. Wegen Brandschutzbestimmungen war eine Schließung offenbar tatsächlich notwendig, auch wenn dies für uns damals schwer verständlich und furchtbar war. Im Nachhinein muss ich aber sagen: Danke, dass es diese schwere Zeit gab, denn ohne die Theaterschließung hätte es möglicherweise keine Sanierung und keinen Neubau gegeben. Ein beträchtlicher Teil des Theaters – der Zuschauerraum, die Bühne, der Orchestergraben und vieles andere – war ja wirklich unzureichend.

Über meinen tiefen Dank für all die Unterstützer der Theatersanierung habe ich oft gesprochen. Alle, die dazu beigetragen haben, können stolz sein, dass Heidelberg in ein paar Monaten ein neues Theater eröffnen wird.

Auch in meiner dritten, vierten und fünften Heidelberger Saison standen in jedem Jahr wesentliche Veränderungen ins Haus, die weit hinausgingen über das, was man in anderen Häusern an Unterschieden zwischen den Spielzeiten erlebt. Im Jahr 2010 folgte der Umzug in die ehemalige Heidelberger Feuerwache. Ich bin verblüfft, wie stark sich die Raumanforderungen von Feuerwachen und Theatern ähneln. Das Opernzelt, das inmitten der als Hufeisen angeordneten Verwaltungsgebäude aufgebaut wurde, kannte ich bereits aus meiner Zeit als Assistent des Generalmusikdirektors am Theater Erfurt in der Spielzeit 2001/2002. Dort sah es ein klein wenig anders aus und wurde „Kuppeltheater“ genannt, aber im Prinzip war es der gleiche Bau. Auch jetzt, nach fast drei Jahren, sind wir mit dem Heidelberger Opernzelt nach wie vor glücklich. Zwar freuen wir uns auf das neue Haus, aber ich würde die drei Jahre im Opernzelt nicht als Übergangsjahre oder als Wartezeit bezeichnen, sondern im Gegenteil: Manches, was hier geschaffen wurde, wäre woanders gar nicht gewagt worden. Große Verdi-Opern wie Othello oder Aida hätten wir im alten Theater mit seinem kleinen Bühnenportal und ungünstigen Orchestergraben höchstwahrscheinlich nicht auf den Spielplan gesetzt.

Wir haben uns gewöhnt an die neue Spielsituation, eine Arena, an einen ungewöhnlichen Orchestergraben, der eigene akustische Herausforderungen bietet, aber interessanterweise Möglichkeiten hervorruft, die wir im alten Theater nicht hatten. Man würde doch zunächst denken, dass ein Theater mit einem echten Orchestergraben, das aus Stein fest in die Erde gebaut wurde, immer bessere Bedingungen bieten müsste als ein schnell errichtetes Opernzelt, aber dem ist nicht so. Da ich das Opernzelt, wie vorhin erwähnt, aus meiner Erfurter Zeit kannte, hatte ich allerdings von Anfang an keinen Zweifel daran, dass es hervorragende Bedingungen bieten würde. Ich habe die Erfurter Zeit in diesem Zelt, das dort und in Kassel Kuppeltheater genannt wurde, in bester Erinnerung. In Heidelberg heißt es nun Opernzelt, aber es ist mehr oder weniger das gleiche Zelt mit einer beeindruckenden Zuschauertribüne und einer hohen Kuppel. Nun haben wir die lustige Situation, dass wir, da der Intendant, der das Opernzelt eröffnet hat, Peter Spuhler heißt, im „Petersdom“ die Aufführungen spielen, die wir in der „St. Albert Hall“ geprobt haben – unser Orchesterproberaum ist jetzt im Gemeindesaal der St. Albert Kirche.

Wie wichtig ist Ihnen als Dirigent die Oper? Im Konzert steht man als Dirigent ja im Mittelpunkt. In der Oper wird einem ein wenig die Schau gestohlen.

CM: Neben vielen weiteren Unterschieden, die mehr inhaltlicher und künstlerischer Natur sind, sind im Konzert das gesamte Orchester und der Dirigent fürs Publikum sichtbar, in der Oper hingegen normalerweise nicht. Dieser Unterschied scheint mir aber nicht wichtig zu sein, weder für die Art, wie man etwas aufführt, noch für das Ergebnis der Aufführung. Allerdings gibt es andere relevante Unterschiede zwischen beiden Gattungen: inhaltliche und aufführungspraktische. Das ist auch ein Grund dafür, dass es eine ganze Reihe von Dirigenten gibt, die nur das eine oder nur das andere dirigieren, und wiederum auch eine Reihe von Dirigenten, die ganz explizit das eine gut können und das andere vielleicht nicht so gut. Opern- und Konzertdirigieren sind handwerklich zwei verschiedene Dinge. Einem Operndirigenten hilft es, wenn er oft als Pianist mit Sängern musiziert. Denn diese Sänger, die da auswendig, in Kostüm und Maske, möglicherweise eine Todesszene verkörpernd, in der Mitte der Bühne stehen und sich buchstäblich ausziehen, müssen besonders gepflegt werden vom Dirigenten. Deren Bedürfnisse nicht nur zu kennen, sondern sie verinnerlicht zu haben, sie wirklich zu spüren, dafür ist es eine große Hilfe, wenn man als Pianist viele, viele Stunden mit Sängern zu zweit an den Partien arbeitet.

Obwohl zu einer GMD-Stelle nicht zwingend die Arbeit am Klavier mit den Sängern gehört – dafür sind eigentlich die Korrepetitoren zuständig –, habe ich hier in Heidelberg mit jedem Ensemblemitglied viele Stunden einzeln geprobt, allein deshalb, weil ich in dieser Situation dem Sänger noch viel direkter Dinge sagen kann, als ich das tue, wenn ich einen Taktstock in der Hand habe und weitere Menschen im Raum sind. Für einen Sänger, der sich selber ganz anders wahrnimmt als der, der die Stimme von außen hört, ist es immens wichtig, ein ständiges Feedback zu bekommen. Der Sänger muss sich aber sicher sein, dass der Dirigent oder Pianist ihm jetzt helfen möchte und es ihm nicht darum geht, ihn bloßzustellen. Je ehrlicher, gleichzeitig aber auch je vertraulicher dieses Feedback ist,  desto mehr wird der Sänger davon profitieren.

Im Gegensatz zu manch absoluter Musik kommt bei der Oper die Dramatik hinzu, die meines Erachtens in jedem Takt zu spüren sein sollte. Es gibt keinen Takt in einer Oper, der dort nur aus rein musikalischen Gründen steht. Ich wäre sicherlich derzeit ein ganz schlechter Regisseur oder ein ganz schlechter Dramaturg, aber ich bin besonders interessiert an diesen Dingen und habe mich immer gefreut, wenn ich zu starken Inszenierungen dirigieren konnte. Bei Werken, die ich in verschiedenen Produktionen in verschiedenen Städten aufgeführt habe, musste ich manchmal für bestimmte Stellen ganz unterschiedliche Tempi wählen, weil ich gemerkt habe, in dieser Inszenierung geschieht  an dieser Stelle so viel mehr – sei es äußerlich oder innerlich –, dass wir mehr Zeit brauchen. Umgekehrt ist es mir passiert, dass ich in Mozarts Oper „Die Entführung aus dem Serail“ eine Stelle, die ich zu Hans Neuenfels' Inszenierung in Stuttgart recht langsam dirigiert hatte, in einer Inszenierung in San Francisco schneller dirigieren musste, um zu einer dramatischen Wirkung zu gelangen. Unabhängig davon, bemühe ich mich selbstverständlich darum, das Tempo so zu gestalten, dass die jeweiligen Sänger sich besonders gut präsentieren können, aber es hängt eben auch von der dramatischen Intensität der Inszenierung in der jeweiligen Situation ab.

Dies alles habe ich als Konzertdirigent nicht. Allerdings ist es auf dem Konzertpodium umso notwendiger, dass ich selbst einen dramaturgischen Bogen nicht nur für das einzelne Werk gestalte, sondern nach Möglichkeit sogar für den gesamten Abend, der aus mehreren Stücken besteht. Da gibt es eben nicht einen spannenden Regieeinfall oder einen Lichteffekt oder eine Gesangskoloratur, die möglicherweise darüber hinwegtäuschen könnten, dass sich der Dirigent an einer Stelle unvernünftigerweise zur Ruhe gesetzt hat.

Auch die Probenarbeit gestaltet sich vor Opern- und Konzertaufführungen unterschiedlich. Das geht schon damit los, dass die meisten Rundfunkorchester von morgens an mit einer kurzen Mittagspause bis in den Nachmittag hinein proben. Das ORF Radio-Symphonieorchester Wien, so heißt das RSO Wien offiziell, fängt üblicherweise bereits morgens um 9 Uhr an zu proben. Das bedeutet, dass sich jeder Orchestermusiker schon einige Stunden davor auf die Probe einstellt, und zwar so professionell, dass wir ohne Probleme um Punkt neun den zweiten Akt aus Wagners „Tristan und Isolde“ aufnehmen könnten, und es würde, behaupte ich, genau so nach einer glutvollen Liebesnacht klingen wie bei einer Aufnahme abends um 20 Uhr. Die Opernorchester hingegen proben üblicherweise morgens ab 10 Uhr bis zum Mittag und dann – nach einer längeren Pause am Nachmittag, in der sich jeder Musiker wie ein Leistungssportler regenerieren kann – wieder am Abend, teilweise bis um 23 Uhr oder sogar noch später, eben analog zu den Opernaufführungen. Häufig kann man abends aber wegen der Aufführungen gar nicht proben. Ein Opernorchester spielt üblicherweise mehr Aufführungen pro Jahr als ein Konzertorchester, da ein und dieselbe Produktion häufig aufgeführt wird, ohne dass erneut dafür geprobt wird. Ein Konzertorchester hingegen spielt außer auf Tourneen ein Konzertprogramm selten mehr als zwei oder dreimal hintereinander, hat aber, aufs Jahr gerechnet, mehr Proben als ein Opernorchester. Vor einer Opernpremiere fängt man sehr viel früher an mit den Proben als vor einem Konzert, allerdings liegen die Proben in einem Repertoireopernhaus verteilt. Da man ja jeden Abend noch andere Stücke aufführt, probt man nicht kompakt. Ein Konzertorchester probt normalerweise kompakt, widmet sich also einige Tage lang nur einem Programm und führt es dann ein-, zwei-, dreimal auf, ehe es zum nächsten Programm geht. Man führt dieses eine Programm dann auch von der ersten Probe bis zur letzten Aufführung immer mit den gleichen Orchestermitgliedern auf. Eine Oper hingegen bleibt vielfach mehrere Jahre oder gar Jahrzehnte im Spielplan. Da im Laufe der Jahre verschiedene Orchestermusiker das Stück spielen werden, muss ich als Dirigent handwerklich so geschickt proben und die Orchesternoten so präzise einrichten, dass eine Produktion auch in der zwölften Aufführung noch frisch klingt.

Ist das nur eine Frage des unterschiedlichen Metiers? Und ist es für den Musiker interessant, beides zu tun, da es auch eine gewisse Abwechslung darstellt?

CM: Mir würde tatsächlich etwas Entscheidendes fehlen, wenn ich nur Opern oder nur Konzerte dirigieren dürfte, allein der Literatur wegen. Es gibt in beiden Genres so wunderbare Werke, die mir fehlen würden, wenn ich sie nicht selber aufführen dürfte. Aber es kommt noch etwas Weiteres hinzu. In der Oper geschieht sehr viel mehr Unvorhergesehenes am Abend – sei es, dass ein Sänger indisponiert ist und durch einen Gast ersetzt wird, der möglicherweise erst fünf Minuten vor der Vorstellung anreist, sodass es für mehr als ein „Hallo“ und „Toi, toi, toi“ nicht reicht, wenn überhaupt; sei es, dass der Sänger indisponiert ist, aber trotzdem singt, und ich besonders aufpassen muss, weil er möglicherweise an diesem Abend an vollkommen anderen Stellen atmen wird oder ein ganz anderes Tempo benötigt; sei es, dass im Orchester irgendein Notfall eingetreten ist und man vielleicht plötzlich mit einem Oboisten musiziert, der das Stück zuletzt vor zehn Jahren an einem ganz anderen Theater in einer ganz anderen Strichfassung gespielt hat.

Diese Dinge machen mir großen Spaß, gerade weil das Publikum von alledem nichts mitbekommen soll. Da zeigt sich dann, wie hochprofessionell alle Beteiligten an einem Opernhaus arbeiten – all diejenigen ausdrücklich eingeschlossen, die am Abend gar nicht auf der Bühne stehen oder im Graben sitzen, sondern auch die Kollegen hinter der Bühne und die Disponenten im Künstlerischen Betriebsbüro, die üblicherweise einen ganzen Koffer voller Telefonnummern haben. Wenn um 15 Uhr plötzlich der Tenor fehlt für die 19-Uhr-Vorstellung, muss der Lappen, wie wir Theaterleute sagen, dennoch hochgehen. Das ist altes Theatergesetz. Was in solchen Situationen für Energien freigesetzt werden, in welcher Schnelligkeit man Entscheidungen fällt, das ist ganz beeindruckend und macht mir großen Spaß.

Umgekehrt freut es mich ebenso – und das betrifft jetzt eher das Konzertwesen –, wenn ich eine Aufführung detailliert geprobt habe und mir sicher sein kann, dass ich mich dieser Aufführung im guten Sinne entspannt nähern kann, weil eben gerade keine Notfälle zu erwarten sind. Dann können wir all das präsentieren, woran wir zuvor gemeinsam geprobt haben, und am Ende feststellen: Oh, das war richtig gut! Das war nicht notfallweise, geretteterweise gut, sondern das war einfach objektiv richtig gut. Vielleicht können wir die Aufführung sogar als wunderbare Live-Aufnahme veröffentlichen.

Es würde mir etwas fehlen, wenn ich nur eins von beidem hätte.

Aber im Konzertbereich gibt es natürlich etwas, was es in der Oper in dem Sinne nicht gibt: Solisten. Welche Rolle spielt für Sie die Begegnung mit Solisten? Von Gustav Mahler weiß man ja, dass die ihm lästig waren.

Ich habe als Pianist selber solistische Erfahrungen sammeln können, dadurch ist mir das Verhalten von Solisten vielleicht besonders vertraut. Ich weiß um die Anspannung, die besondere Nervosität, die man möglicherweise selbst dann spürt, wenn man ein Klavierkonzert schon oft aufgeführt hat. Aber ich hatte bisher großes Glück mit Solisten und habe es genossen,  ganz unterschiedliche Persönlichkeiten kennen zu lernen. Ich habe mit Solisten musiziert, die Probenfanatiker waren und bis zum letzten Moment, bevor das Konzert losging, noch Dinge verbessern wollten, wiederum mit anderen Solisten, bei denen ich als Dirigent darum betteln musste, ob wir noch ein bisschen proben können und die im Konzert plötzlich ganz anders gespielt haben als jemals in der Probe zuvor. Mit „ganz anders“ meine ich nicht, dass sie dann mehr Show gemacht hätten fürs Publikum, sondern dass sie ganz andere Tempi gewählt, ganz andere Rubati gemacht haben. Wiederum andere Solisten haben auf einer Tournee fünf- oder zehnmal hintereinander das gleiche Konzert aufgeführt und jedes Mal auf die Sekunde genau gleich gespielt. All das gibt es; ich empfinde es als spannend und belebend, dass ich bei einem Solokonzert wachsam sein muss, um den Solisten im Idealfall so zu unterstützen, dass er sich vollkommen frei entfalten kann. Bei meinem ersten Konzert, das ich im Mai 2010 mit dem RSO Wien gegeben habe – also noch einige Monate, bevor ich meine Stelle offiziell angetreten habe – gab es eine besondere Überraschung. In diesem Konzert spielte Ivo Pogorelich als Solist mit uns Tschaikowskys berühmtes b-Moll-Klavierkonzert. Das war sicherlich eine Aufführung, bei der manch anderer Dirigent davon gelaufen wäre, weil es sehr anspruchsvoll ist, Ivo Pogorelich zu begleiten. Er ist ein Künstler, der aus dem Moment heraus gestaltet, der keine Festlegungen kennt und der auch eine sehr persönliche und individuelle Sichtweise auf dieses Tschaikowsky-Konzert hat. Aber ich muss sagen, dass das RSO sich mit dieser Aufführung größten Respekt beim Publikum erworben hat. Denn wir haben deutlich gemacht, dass wir nicht nur willens sind, dem Solisten ein angenehmer Partner zu sein, sondern auch in der Lage, musikalisch so flexibel zu spielen, dass wir jede Biegung mitmachen, die er aus seiner spontanen Kreativität heraus gerade unternimmt. Deswegen werde ich heute, immerhin zwei Jahre nach dem Konzert, immer noch relativ häufig von Konzertbesuchern angesprochen, denen offenbar immer noch in denkwürdiger Erinnerung ist, wie gut das RSO Wien diesen Solisten begleitet hat.

Wie wichtig war es, dass Sie zunächst Pianist waren, für die ganze Laufbahn als Dirigent? Man könnte annehmen, dass Solist-Sein dabei auch hinderlich ist?

CM: Es hilft mir sehr. Zum einen habe ich das Glück, dass ich schon ganze Konzertabende zu einem Zeitpunkt gespielt hatte, bevor ich zum ersten Mal ein Orchester dirigiert habe. Lange bevor ich meine erste Brahms-Symphonie als Dirigent aufgeführt habe, hatte ich die beiden Klarinettensonaten, die drei Geigensonaten, die Cellosonaten, aber auch die Klaviersonaten gespielt. Das habe ich immer als großen Vorteil empfunden, denn mir kommen viele Fragen, die ich mir als Musiker stelle, erst, wenn ich das Stück im Konzertsaal aufgeführt habe, nicht schon vorher. Nachdem ich viele, viele ganze Abende, seien es Klavierabende, seien es Kammermusikabende, gespielt hatte, haben sich mir ebenso viele Fragen gestellt, die ich dann wiederum für mich in dieser und jener Weise beantwortet habe, lange, bevor ich vor einem Orchester stand und Werke dieser Komponisten aufgeführt habe. Als Orchesterdirigent hat man ja nur wenige Tage Probenzeit, und wenn ich mir vorstelle, ich müsste innerhalb weniger Tage in eine Brahms-Interpretation hineinwachsen, unter dem Stress, den man als unerfahrener Dirigent sowieso verspürt, und ohne je ein anderes Werk von Brahms ganz aufgeführt zu haben … o weh, o weh. Beethoven ist ein weiteres Beispiel. Selbstverständlich, es wird sicherlich immer ein besonderer Moment für jeden Dirigenten sein, seine erste Beethoven-Symphonie aufzuführen, aber auch da hatte ich das Gefühl, es war ein klein wenig einfacher für mich allein dadurch, dass ich schon vorher komplette Beethoven-Sonaten am Klavier aufgeführt hatte.

Hier in Heidelberg war es mir immer eine große Freude, jedes Jahr ein Klavierkonzert zusammen mit dem Philharmonischen Orchester aufzuführen und dabei vom Klavier aus zu dirigieren. Angefangen haben wir mit Grieg, einem Werk, bei dem man möglicherweise zunächst nicht erwartet, dass das ohne Dirigent gut funktionieren kann. Ich behaupte aber, dass manche Stellen besser und eindringlicher gelingen, wenn man das Stück in Form einer großen Kammermusik anlegt. Im zweiten Jahr haben wir das Liszt'sche Es-Dur-Klavierkonzert aufgeführt; da ist es vielleicht sogar noch eindrucksvoller, wenn das Solocello oder ein Solobläser vom Klavier ohne Dirigent begleitet werden. In diesem Solo-Konzert gibt es echte Solopassagen einzelner Orchestermusiker, an denen ich mich, wenn ich die Konzerte dirigiere und ein anderer Solist spielt, als Dirigent ganz zurückhalte, weil ich den Eindruck habe, zwei Musikerpersönlichkeiten werden dann am dichtesten zusammen sein, wenn  nicht jeder auf den Dirigenten starrt. In diesem Falle hatten wir eben gar keinen. Im dritten Jahr haben wir Gershwins Rhapsody in Blue aufgeführt, im vierten Jahr das Beethoven'sche C-Dur-Konzert, im fünften Jahr haben wir nichts gemacht und im sechsten Jahr Mendelssohns d-Moll-Konzert.

Das hat einerseits das Philharmonische Orchester und mich möglicherweise noch auf einer anderen Ebene zusammengeschweißt, es hat aber auch dazu beigetragen, dass das Publikum noch neugieriger war, in die Konzerte zu kommen. Die Heidelberger Philharmonischen Konzerte wurden vor 2005 immer nur einmal gegeben. Abonnementskonzerte, die nur einmal aufgeführt werden, sind eigentlich zu wenig für eine Stadt, die doch immerhin fast 150.000 Einwohner hat. Möglicherweise hat die Attraktion, dass der GMD jetzt als Solist spielt und vom Klavier aus dirigiert, dazu beigetragen, dass der eine oder andere neugierig wurde und mal vorbeigeschaut hat. Dieses Neugierigsein hat dann glücklicherweise dazu geführt, dass es nicht mehr genügend Sitzplätze in den Konzerten gab und die Abonnentenzahlen sich im Konzertwesen nach sieben Jahren verdreifacht haben. Wenn wir jetzt im Mai mit Bruckners Achter das letzte gemeinsame Philharmonische Konzert aufführen, werden wir dieses Konzert tatsächlich an drei aufeinander folgenden Tagen spielen und damit mehr als dreimal so viele Menschen erreichen als bei meinem ersten Heidelberger Konzert, das voll, aber nicht ausverkauft war. Ich bin nicht jemand, der diese äußeren Dingen gern in den Vordergrund stellt, aber ich glaube schon, dass es gerade, wenn einem öffentliche Gelder anvertraut werden, schon wichtig ist, dass diese öffentlichen Gelder so angewendet werden, dass die Bevölkerung der Stadt glücklich ist damit und ihr Orchester mehr und mehr ins Herz schließt. Dass die Bevölkerung von diesen öffentlichen Geldern profitiert, indem sie zu den Konzerten kommt, darauf sind wir stolz.

Es wurden hier auch Ereignisse veranstaltet, die man im normalen Konzertalltag nicht erwarten würde. Das erste war „Das neue Wunderhorn“, was ein außergewöhnlicher Schritt in die Öffentlichkeit war.

CM: „Das neue Wunderhorn“ von 2006 war das Projekt, das am weitesten nach außen gestrahlt hat und das dank einer schönen DVD- und Buch-Dokumentation weiter für Furore sorgt. Darüber hinaus gab es viele weitere Projekte, bei denen wir u. a. mit Schulorchestern zusammen gespielt haben. In den letzten Jahren haben wir eine Serie mit dem Titel „Rap it like Heidelberg“ entwickelt; da konnten die Zuschauer beim Konzert Live-Painting erleben. Während das Stück aufgeführt wurde, konnte das Publikum sehen, wie das Graffiti gestaltet wird.

„Das neue Wunderhorn“ aber war insofern wegweisend, als wir uns nicht nur auf die Aufführung konzentriert haben, sondern der Weg dorthin, der über ein Jahr lang gedauert hat, eigentlich schon selbst eine Aufführung war. An Bushaltestellen wurden leere Plakate geklebt mit der Aufforderung, man solle etwas dichten oder etwas schreiben. Jeder von uns wartet doch mal an Bushaltestellen, und wenn man dort die Aufforderung sieht, schreib doch was, dann kommen die schönsten Dinge dabei heraus. Der Titel „Das neue Wunderhorn“, 200 Jahre nach der Sammlung von Achim von Arnim und Clemens Brentano, soll verdeutlichen, dass wir einen ähnlichen Weg gegangen sind: nicht Schriftsteller-Hochkultur, nicht professionelle Künstler, sondern jeder von uns, der gerade an der Bushaltestelle Lust hat, etwas zu dichten. Das wurde dann von Komponisten vertont, und dazu gab es Choreografien und vieles andere mehr. Solch ein einmaliges Projekt kann man aufgrund des logistischen Aufwands natürlich nicht jedes Jahr machen, aber es war ein Projekt, das allen, die dabei waren, sehr viel gegeben hat.

Die „Wunderhörner“ beispielsweise waren ein Zusammenschluss von lauter Heidelberger Blechbläservereinigungen, die ein für diesen Anlass komponiertes Stück aufgeführt haben, sodass tatsächlich der Abend „Das neue Wunderhorn“ mit Hörnern, aber auch Trompeten und Posaunen, begann und zwar schon vor dem Theater. Das Projekt war also keine Aufführung, die ausschließlich im Theater auf der Bühne gespielt wurde.

Wird das für Sie weiterhin eine Rolle spielen, solche neuen Wege in die Zukunft zu suchen?

CM: In Wien haben wir vor einem Jahr ein größeres Projekt in einem Einkaufszentrum, im Donau-Zentrum, aufgeführt: „Melting Pot“ von Bernhard Gander. Man könnte denken, dass in Wien mit der Musiktradition und dem unglaublich großen Konzertangebot jeder ganz selbstverständlich in Konzerte geht. Aber das ist nicht der Fall. Es gibt einen großen Anteil an der Bevölkerung, der schon seit Generationen ganz selbstverständlich in den Musikverein und ins Wiener Konzerthaus geht, der in kultureller Hinsicht gebildet ist. Aber es gibt auch in Wien wie in jeder anderen Großstadt ganze Stadtteile, in denen die meisten Bewohner noch nie ein Symphonieorchester erlebt haben. Auch diese Menschen wollten wir vertraut machen mit dem, was uns besonders am Herzen liegt, und zwar auf eine Art und Weise, dass nicht wir dorthin kommen, unseren Mozart mitbringen und wieder wegfahren, sondern dass wir voneinander lernen. Wir wollten kennenlernen, mit welcher Kultur sich diese jugendlichen und jungen Menschen beschäftigen, und daraus entstand dann eine Aufführung mit Hiphoppern, mit Beatboxern, mit Rappern. Eine junge Frau hat Poetry Slam zum Besten gegeben. Und das Ganze in einer ununterbrochenen Aufführung, so dass am Ende ein Stück aufgeführt wurde, das es so nur an diesem einen Abend gab und neben dem Symphonieorchester auch von den eben genannten Personen gestaltet wurde.

Das gab es nur an dem Abend, wurde allerdings wie jedes Konzert des Radio Symphonieorchesters auch aufgenommen und übertragen. Es ist ein wesentlicher Auftrag des RSO Wien, dass man fürs Radio und zunehmend auch fürs Fernsehen aufnimmt. An diesem Abend waren viele Intendanten der europäischen Rundfunk- und Fernsehanstalten in Wien, weil dort gerade eine Tagung der Führungsgremien stattfand. Wir haben danach spaßeshalber gesagt: Wenn sich alle Rundfunkorchester in Europa wundern, wie der Intendant jetzt plötzlich darauf kommt, dass man mit Poetry Slam etwas machen müsse, dann waren wir vielleicht nicht ganz unschuldig.

Werden auch viele Konzerte für Kinder gespielt?

CM: In Wien bauen wir ein größer angelegtes Jugendprogramm auf, das darüber hinausgeht, dass man Schulklassen ohne Vorbereitung ins Zuschauerhaus setzt, vielleicht die Hälfte einer Generalprobe anhören lässt und dann ohne Nachbereitung wieder wegschickt. Das muss ja nichts Schlechtes sein, aber wir glauben, dass man mehr tun kann, sei es, dass einzelne Orchestermusiker oder auch der Dirigent selbst mit den Schülern vorher spricht und Fragen beantwortet, die manchmal in eine Richtung gehen, die man gar nicht erwartet hat. Wir selber, die wir das tagein, tagaus machen, stellen uns doch manchmal diese Fragen gar nicht mehr, die jemand, der zum ersten Mal in ein Konzert geht, für ganz selbstverständlich hält. Es ist sehr erfrischend für beide Seiten festzustellen, was einem auffällt und was man für besonders hält.

Schon bevor ich nach Heidelberg gekommen bin, gab es hier Familienkonzerte, sogar mit einem eigenen Abonnement. Das Heidelberger Theater ist ein Mehrspartenhaus mit einem eigenen Kinder- und Jugendtheater, das allerdings nur Schauspiele aufführt, also mit Musik wenig zu tun hat. Aber es hat sich im Laufe der Jahre bei den Familienkonzerten eine kontinuierliche Zusammenarbeit beider Sparten entwickelt, so dass wir von der Erfahrung lernen konnten, die sich das Kinder- und Jugendtheater über Jahre hinweg erworben hat. Die hervorragenden Kollegen vom Kinder- und Jugendtheater wiederum hatten offensichtlich Spaß daran, mit dem Philharmonischen Orchester zusammenzuarbeiten und Werke aufzuführen, die im Kinder- und Jugendtheater bisher nicht gespielt wurden.

Und was tut sich speziell für Jugendliche?

CM: Früher gab es relativ wenig für diejenigen, die nicht mehr in ein Kinder- oder Familienkonzert gehen würden, aber auch (noch) keine Lust auf eine Bruckner-Symphonie haben, inzwischen bietet das Philharmonische Orchester aber tatsächlich für alle Altersklassen, sozusagen von 0 bis 99 Jahren, Aufführungen an. Konzerte für Jugendliche sind möglicherweise das anspruchsvollste Format, das man entwickeln kann. Bei Jugendlichen merkt man einfach sehr schnell, ob die Aufführung gut ankommt oder nicht. Drei Tage vorher wissen wir als Veranstalter häufig noch nicht, ob überhaupt jemand kommt oder ob wir das Konzert dreimal aufführen könnten. Bei manchen Jugend-Konzerten verschicken wir am Konzerttag morgens lauter SMS über einen speziellen Verteiler: Heute Abend großes Konzert! Unbedingt kommen! Und dann ist das Konzert voll. Es hätte nicht funktioniert, wenn wir drei Wochen vorher Flyer ausgelegt hätten. Es ist spannend, dass man für jede Altersklasse unterschiedliche Formen der Information verwenden muss. Eine Konzertreihe führt das Philharmonische Orchester zusammen mit Jugendlichen auf: „Rap it like Heidelberg“. Wir versuchen, Musik, die viele Jugendliche heute gern hören, zu verbinden mit Musik, die das Philharmonische Orchester üblicherweise aufführt. Daraus entsteht etwas, das für beide Seiten sowohl vertraut als auch neu ist. Wir werden damit demnächst auch in der Halle 02 auftreten, dem wichtigsten Heidelberger Veranstaltungsort für Jugendliche und junge Menschen, üblicherweise aber nicht für klassische Konzerte. Auch in dieser Hinsicht habe ich Heidelberg als sehr offen erlebt: Man besucht sowohl die Stadthalle als auch die Halle 02; man ist neugierig, an ungewöhnlichen Orten Neues  zu entdecken. Wir haben uns in den letzten Jahren bemüht, jedem Heidelberger Stadtteil zu ermöglichen, an dem reichhaltigen Angebot des Theater und Philharmonischen Orchesters teilzuhaben.

Sie haben immer gerne Filmmusik dirigiert. Was ist der besondere Reiz dabei?

CM: Ich habe Musik zu Stummfilmen sowohl in Heidelberg als auch mittlerweile in Wien dirigiert. In Heidelberg war das neben den Chaplin-Filmen „Gold Rush“, „Modern Times“ und „City Lights“ der Klassiker „Metropolis“ von Fritz Lang mit der Musik von Gottfried Huppertz. In Wien konzentriere ich mich ganz auf Chaplin. Wir haben vorhin über die Unterschiede zwischen Oper und Konzert gesprochen. Zu einem Stummfilm zu musizieren ist aber noch etwas ganz Anderes. In meiner Kapellmeisterzeit in Hannover habe ich übrigens auch Ballett dirigiert. Alle vier Genres – Oper, Konzert, Stummfilm, Ballett – erfordern von mir als Dirigenten unterschiedliche Fähigkeiten. Beim Stummfilm muss ich am aufmerksamsten begleiten: Wenn ich einen Sänger schlecht begleite, wird er sich vielleicht ärgern, aber doch irgendwie versuchen, dass wir zusammenkommen. Der Film hingegen kümmert sich nicht, ob ich zu schnell oder zu langsam bin – er hat sein eigenes Tempo, das allerdings nicht immer gleich ist. Die alten Filme werden üblicherweise nicht digital abgespielt, so läuft der Film bei jeder Aufführung ein klein wenig anders – nur minimal natürlich, aber doch so viel, dass es nicht möglich wäre, als Dirigent einfach auf eine Stoppuhr zu achten statt auf den Film. Schon als Ballettdirigent habe ich Fortschritte gemacht, Bewegungsabläufe auf der Bühne – generell: sichtbare Geschwindigkeiten – zu übersetzen in musikalische Bewegung. Als Filmdirigent habe ich noch einmal vieles dazugelernt, das mir auch als Operndirigent hilft.

Was sind das für Dinge, die hier im Heidelberger GMD-Zimmer an der Wand hängen? Hier beispielsweise der Kölner Dom.

CM: Hier an der Wand hängen einige Dinge, die mir wichtig sind. Der Dom besteht aus lauter Noten – das ist die Arbeit eines Kölner Künstlers mit dem beziehungsreichen Titel „Ode de Cologne“.

Hier eine Partitur von Miroslav Srnka, der Komponist für Heidelberg war – wir hatten ja jedes Jahr einen „Komponisten für Heidelberg“. Srnka schreibt gerne vielfach geteilte Streicher in seinem Orchesterwerken. Das führt dazu, dass die Partituren sehr groß sind, weil er alleine für den Streicherapparat nicht fünf oder vielleicht zehn Zeilen braucht, sondern ein Vielfaches mehr. Das letzte Streicherpult hat auch noch seine eigene Stimme! Damit erzielt er einen sehr farbenreichen und differenzierten Klang, der mir sehr gut gefällt. Als wir die Noten für die Uraufführung, die wir gespielt haben, vom Verlag erhielten, waren die immerhin auf DIN A2 gedruckt, also schon ein ziemlich großes Papierformat – doch selbst das war noch so klein, dass ich es kaum lesen konnte. Ich ließ es mir noch einmal vergrößern, doch nun wusste ich nicht, wie ich es binden oder kleben sollte. Die Zeit war sehr knapp, den Verlag wollte ich auch nicht damit behelligen, weil ich das als mein Privatproblem ansah. So habe ich das am Ende tatsächlich mit Miroslav Srnka gemeinsam genäht, mit Nadel und Faden! Es war die beste Möglichkeit, diese kaum zu transportierenden Seiten zusammenzuhalten. Das war ein sehr schöner Vorgang, wie der Komponist und der Uraufführungsdirigent diese Noten zusammennähen. Als ich das Stück später besser kannte, habe ich es aus einer Studienpartitur dirigiert – die aber immer noch DIN A2 groß war – so dass ich es mir erlauben konnte, die Uraufführungspartitur an die Wand zu hängen. Aufgeschlagen ist die Seite mit der Tempoangabe „hystericky“, das ist Tschechisch für hysterisch: Ich dachte, das ist für einen Theaterbetrieb, wo man ja schon allein in den Opern, mit denen man sich beschäftigt, durchaus hysterische Zustände erlebt, sehr passend an die Wand zu hängen!

Daneben hängt eine Seite aus dem Autograph von Jörn Arneckes Oper „Das Fest im Meer“. Das war ein Auftragswerk der Hamburgischen Staatsoper, dessen Uraufführung ich im Jahr 2003 dirigiert habe. Jörn Arnecke war später ebenfalls einer der Komponisten für Heidelberg. Jörn Arnecke hat mir damals diese eine Seite geschenkt, was für mich ein unfassbar großes Geschenk war, dass ein Komponist mir eine Seite aus seiner Handschrift schenkt. Schönerweise ist es die Seite, auf der der Satz vertont ist „Alles ist nur eine Frage des Sortierens“ – das ist doch ein schönes Motto für ein Büro!

Und hier hängt eine Fotografie von Max Reger an der Orgel. Max Reger war ja für Heidelberg sehr wichtig – nicht nur für einige Räume und auch für einige Gaststätten in den Stadtteilen und der Umgebung, von denen man weiß, dass er vor noch gar nicht so langer Zeit dort gewesen ist. Da ich Max Reger als Komponisten für sehr viel spannender halte als die Aufführungszahlen seiner Werke das vermuten lassen, und dieses Bild hier eines Tages im Archiv auftauchte, dachte ich, es wäre doch sehr schön, das hier im Zimmer zu haben, statt es irgendwo vergammeln zu lassen.

Hinter meinem Schreibtisch hängen zwei Anagramme an der Wand: Je nachdem, wie man sie schüttelt, ergeben die Buchstaben mehrere sinnvolle oder sinnlose Wörter. Man kann das als Aussage betrachten oder bloß als Spiel mit Buchstaben. So wird aus dem „Generalmusikdirektor“ ein „Kurdirektor Algenmies“. Daneben hängt ein Urlaubsantrag, ohne den mein Leben sehr viel anders verlaufen wäre. Ich war in Erfurt, als ich von der Hamburgischen Staatsoper das Angebot bekam, eine Neuproduktion zu dirigieren, Hans Werner Henzes „Pollicino“. Das war die erste Oper im Rahmen der neu eingerichteten Opera piccola, die es sich zum Ziel gesetzt hatte, professionelle Musiker mit Kindern und Jugendlichen gemeinsam eine Aufführung für Familien gestalten zu lassen. Da waren sogar singende Kindersolisten dabei! Für mich war das eine Riesenchance, etwas an der Hamburgischen Staatsoper machen zu können. Ich war aber in der Spielzeit 2001/02 fest im Engagement in Erfurt. Man kann sich vorstellen, dass es nicht so einfach war, frei zu bekommen und unbezahlten Urlaub zu nehmen. Als ich durch ein riesiges Entgegenkommen der Erfurter Theaterleitung tatsächlich die Möglichkeit bekam, in Hamburg zu gastieren, wurde das auf diesem Urlaubsschein dokumentiert. Ich dachte mir, diesen Urlaubsschein hängst du dir hinter deinen Schreibtisch und schaust immer dann darauf, wenn du selbst darüber zu befinden hast, ob ein Urlaubsantrag zu genehmigen ist. Nicht, dass ich immer alle Urlaubsanträge genehmigt hätte, die auf meinem Schreibtisch landeten, aber zumindest bemühte ich mich, ein gutes Gleichgewicht zu finden zwischen den Interessen des Antragsstellers und denen des Hauses. Denn das Haus besteht ja aus den Menschen, die gegebenenfalls diese Urlaubsanträge stellen – es gibt kein Haus ohne die Menschen, die dieses Haus bilden, und wenn ich dazu beitragen kann, dass diese Menschen glücklich sind, weil sie ab und zu in anderen Städten Erfahrungen sammeln können und diese dann hier ihrem Stammhaus wieder zur Verfügung stellen, dann habe ich immer versucht, dies möglich zu machen, solange es in einem gewissen Gleichgewicht blieb. Dabei habe ich wirklich manchmal auf diesen Urlaubsschein geschaut, der nun nach einem Jahrzehnt schon langsam verblasst.

Und dann stehen hier noch zwei Pflanzen im Raum, die aber nicht einfach nur Ficus benjamini sind, wie man denken könnte, sondern städtische Luftbefeuchter. Die Stadt Heidelberg ermöglichte den Ankauf eines Steinway B-Flügels – also eine sehr große Investition –, und ich sagte damals, wir müssen sicherstellen, dass er nicht gleich im ersten Winter kaputt ist, weil er einen Riss im Resonanzboden erleidet. Das geschieht einem Flügel, wenn es im Raum zu trocken ist, was im Winter ja ganz normal vorkommt. Wir müssen also einen Luftbefeuchter hereinstellen, wie das in den Musikhochschulen und anderen Räumen, in denen Instrumente stehen, gang und gäbe ist. Als Problem erwiesen sich hierbei die Hygienevorschriften. Wir hatten die Wahl zwischen einem Modell, das extrem teuer war, weil es sich selbst reinigt, und anderen Modellen, die man von Hand hätte reinigen müssen, bei denen aber nicht sicherzustellen war, dass sie auch wirklich immer zum vorgeschriebenen Zeitpunkt fachgerecht gereinigt werden würden – man kann sich vorstellen, dass in einem öffentlichen Gebäude, in dem viele Keime herumschwirren, man über so etwas nachdenken muss. Wir saßen also in der Zwickmühle zwischen dem nicht zu finanzierenden selbstreinigenden Luftbefeuchter und dem nicht zulässigen billigen Modell. So entschieden wir uns für den Plan B, Pflanzen anzuschaffen und gemeinsam mit einem Pflanzenfachmann darüber nachzudenken, was die besten großblättrigen Pflanzen sind, die die größtmögliche Wassermenge verdunsten, damit der Flügel geschont wird. Und das ist also dabei herausgekommen.

Sprechen wir über Wien. Seit der letzten Spielzeit sind Sie zusätzlich Chefdirigent und Künstlerischer Leiter des ORF Radio-Symphonieorchesters.

CM: Ich hatte schon immer den Traum, nach den Erfahrungen, die ich mit einem Orchester sammeln konnte, das in einem Theater beheimatet ist, meine nächsten Erfahrungen mit einem Rundfunkorchester zu sammeln, also mit einem reinen Konzertorchester. Wir sprachen vorhin über die unterschiedlichen Probenzeiten, aber es gibt doch noch etliche weitere, ganz grundsätzliche Unterschiede in den Orchesterformen. Ein Orchester in einem Theater „tickt“ ganz anders als ein Rundfunkorchester, obwohl das Philharmonische Orchester Heidelberg ja ungewöhnlich viele Konzerte spielt im Vergleich zu anderen Orchestern, die auch in einem Theater wohnen. Bei beiden ist die Seele des Orchesters etwas ganz anderes, und ich wollte gerne Erfahrungen in diesem anderen Bereich sammeln. Als ich dann in Wien gefragt wurde, ob ich mir vorstellen könnte, dort Chefdirigent und Künstlerischer Leiter zu werden, habe ich aus vielen Gründen mit Freude Ja gesagt.

Wien ist ja für jeden Musiker ein Traum, weil man auf Schritt und Tritt so viel Vergangenheit und Tradition spürt, die teilweise noch gar nicht so lange her ist. Da gibt es Menschen, deren eigene Eltern oder Großeltern noch authentisch Dinge erlebt haben mit Gustav Mahler oder ähnlichen Persönlichkeiten, die man anderenorts nur aus Büchern kennt. Für mich es ist ein großes Glück, regelmäßig in den Abonnementskonzerten im Musikverein und im Konzerthaus zu dirigieren. Die Akustik dort ist schon etwas ganz Besonderes! Dort musizieren zu dürfen ist einfach sehr schön. Auch das Erforschen der Wiener Musiziertradition ist für mich faszinierend. Im Radio-Symphonieorchester spielt man beispielsweise auf der Wiener Oboe: Das ist tatsächlich ein anderes Instrument als die Oboen, die sonst überall auf der Welt gespielt werden. Und so gibt es noch weitere Traditionen des Wiener Musizierstils, die dort gepflegt werden. Wir haben jetzt wieder eingeführt, dass die Kontrabässe im Musikverein  frontal zu mir sitzen, also nicht rechts auf der Seite, sondern in der Mitte. Nun sitzen sie zwischen den Säulen – jeder hat sein kleines Zimmerchen da. Die Wiener Philharmoniker spielen fast immer so. Im Musikvereinssaal klingt es besonders schön, wenn man die Kontrabässe vor der Orgel hat und sie einen Resonanzboden hinter sich haben oder dort oben nach ganz alter Bläserserenaden-Tradition – etwa Mozarts Bläserserenaden mit Kontrabass – die Kontrabässe nicht Teil der Celli sind und nur etwas tiefer spielen, sondern dass sie gleichzeitig auch Teil des Bläserapparates sind.

Mir gefällt auch, dass das Wiener RSO seit seiner Gründung regelmäßig zeitgenössische Musik gespielt und sich dafür eine Kompetenz erworben hat, die ich unvergleichlich finde. Wenn man ein Werk wie Cerhas „Spiegel“-Zyklus nimmt, merkt man, wie sich die Rezeption verändert. Das RSO hat diesen Zyklus uraufgeführt, der etwa eineinhalb Stunden dauert und außerordentlich groß besetzt ist. Man kann das im Funkhaus gar nicht im Tutti proben. Dieser Zyklus stellt enorme Anforderungen in jeglicher Hinsicht, spieltechnischer Art, aber auch was die Kondition anbelangt. Manchmal muss man über Minuten hinweg scheinbar das Gleiche spielen, dann aber plötzlich wieder auf dem Posten sein. Man ist als Mitwirkender über weite Strecken wie ein Wassertropfen im Meer, doch plötzlich merkt man: Wenn jetzt nicht jeder dieser Wassertropfen richtig ist, dann gibt es dieses Meer nicht. Trotzdem ist halt jeder nur ein Wassertropfen. Das RSO hat die „Spiegel“ als Zyklus 1972 uraufgeführt und später unter Cerhas Leitung auch bei den Salzburger Festspielen gespielt. Wir haben diesen Zyklus nun wieder aufgeführt, diesmal mit mir. Diejenigen, die schon länger im Orchester sind, sagten, es sei spannend, wie anders ein solches Stück heute gehört wird. Nicht nur vom Publikum – auch für sie selber als Mitwirkende damals und heute. Das ist schon toll, wenn das Uraufführungsorchester das gleiche Stück ein paar Jahrzehnte später noch einmal spielt und dabei merkt, wie es sich verändert hat, obwohl es doch das Gleiche geblieben ist. Da fragt man sich, welches der Stücke, die wir heute uraufführen, das Potential hat, dass man es in dreißig, vierzig Jahren wieder hören wird – das kann man bei der Uraufführung noch nicht wissen.

Das RSO Wien hat eine der größten Schlagwerk-Sammlungen, die es gibt. Das ist ein riesiges Lager, in dem Dinge stehen, die andere Leute gar nicht als Instrumente ansehen, sondern im täglichen Leben vielleicht als Kette identifizieren würden. Es handelt sich dann aber um eine schwere, dicke, rostige Eisenkette, die in einem bestimmten Werk an einer bestimmten Stelle genau so erklingen muss. Der Orchesterinspektor war es mal leid, dass Komponisten, obwohl man schon so viele Instrumente gesammelt hatte, dennoch immer weitere Instrumente verlangten. Er wandte sich an einen Komponisten mit der Bitte, sich doch möglichst auf die Instrumente zu beschränken, die vorhanden sind, und lud ihn ein, einen Tag in dieser Kammer zu verbringen und sich dort inspirieren zu lassen. Der hat sich darauf eingelassen, aber danach tatsächlich alle Instrumente verwendet, die er in dieser Kammer fand. Darauf wurde die Strategie wieder geändert und den Komponisten nichts von dem Schlagzeuglager erzählt.

Sie dirigieren regelmäßig in Berlin. Hat die musikalische Atmosphäre dieser Stadt Sie auch beeindruckt?

CM: Mein erstes Mal in der Berliner Philharmonie werde ich nie vergessen – einer jener Orte, mit denen man ganz frühe Erinnerungen verbindet, aus einer Zeit, in der man niemals daran gedacht hätte, dass man selbst einmal dort dirigieren darf. Ich erinnere mich sehr genau an das Antrittskonzert von Simon Rattle bei den Philharmonikern, bei dem er Mahlers Fünfte und ein Stück von Thomas Adès dirigierte und ich die Gelegenheit hatte, auch bei Proben dabei zu sein. Aber auch an viele andere Gelegenheiten, an Fotografien, die man von Konzerten kennt, aber auch vom ganzen Gebäude. Dazu die ganzen Geschichten und Anekdoten über Karajan und all die anderen. Das ist sehr schön, wenn man dann weiß: Ach ja, jetzt bin ich an diesem Ort, über den ich bisher so viel gelesen und gehört habe. In meinem ersten Konzert in der Berliner Philharmonie habe ich das Deutsche Symphoniorchester u. a. in der 1. Symphonie von Martinů dirigiert. Ich habe mich ja immer bemüht, mir einerseits das Repertoire zu erarbeiten, das man kennen sollte, habe alle Beethoven-Symphonien dirigiert, Brahms, Bruckner, Mahler mir erarbeitet und versucht, mir in relativ kurzer Zeit einen Großteil des Kernrepertoires anzueignen. Ich dirigiere das auch sehr gerne und freue mich, wenn ich beispielsweise in Amerika als in Deutschland geborener Dirigent den dortigen Musikern das europäische Repertoire nahebringen kann, wie ich mich umgekehrt sehr freue, wenn ich von amerikanischen Musikern andere, eben amerikanische Musik nahegebracht bekomme und verstehen lerne. Oft ist ja der Notentext nur ein ganz geringer Teil dessen, was man über ein Werk wissen muss. Ganz wird man eine fremde Kultur vielleicht nie verinnerlichen können, aber ich bin sehr neugierig und versuche es. Wenn mir ein amerikanischer Musiker sagt, „Sie haben aber einen sehr schönen Bernstein aufgeführt“, oder ein finnischer Musiker sagt, „Sie haben aber einen sehr schönen Sibelius aufgeführt“, dann ist das für mich ein besonders wertvolles Lob. Ich glaube, dass die Kulturen doch verschieden sind. Das hat eben auch mit unterschiedlichen Mentalitäten zu tun, die manchmal den Landesgrenzen entsprechen, manchmal auch nicht.

Außerhalb dieses Standardrepertoires habe ich mich immer bemüht, Werke zu spielen, die ich ganz subjektiv besonders toll finde. Dazu zählen einige zeitgenössische Werke, die noch nicht so bekannt sind, dazu zählen aber auch einige Werke, die schon ganz lange existieren, seltsamerweise aber ganz wenig aufgeführt wurden, die Martinů-Symphonien etwa, aber auch die Sibelius-Symphonien, die wir in Wien zyklisch aufführen. Außerhalb Wiens und gerade in Amerika werden die Sibelius-Symphonien viel häufiger gespielt, in Wien hat sich das noch nicht durchgesetzt. Martinů wiederum wird nicht nur in Wien, sondern überall auf der Welt selten gespielt – eine Kammermusik schon häufiger, und in Heidelberg haben wir sogar eine Oper von ihm aufgeführt, „Die drei Wünsche“. Ich habe mich gefreut, dass das hier gut ankam. Man fragt sich, warum Martinůs Werke so selten aufgeführt werden. Immer, wenn ich eine Martinů-Symphonie irgendwo aufgeführt habe, hatte sie extremen Erfolg. Es ist nicht so, dass ich ein einsamer Rufer in der Wüste bin und etwas spiele, was man erst später verstehen wird, nein, das Publikum fühlte sich immer unmittelbar angesprochen, und viele sagten, es sei schon komisch, das man das noch nicht gekannt habe. Ein Grund könnte sein, dass das Notenmaterial schlecht ist. Es ist nicht gut gedruckt und macht viel Mühe. Daneben ist diese Musik sehr davon abhängig, wie gut sie aufgeführt wird. Es gibt ja Werke, die praktisch unzerstörbar sind. Werke von Richard Strauss klingen immer noch ziemlich gut, auch wenn sie mittelmäßig aufgeführt werden. Bei Schostakowitsch ist es genauso, da kann man zwar der Meinung sein, das hätte man schon besser gehört, aber es funktioniert dennoch und man erkennt das Werk immer. Bei Martinů ist das anders. Wenn da der große Bogen und der Aufbau nicht stimmen, wenn der besondere Klang und die Innerlichkeit nicht da sind, dann fehlt dem Stück so viel, dass ich mir schon vorstellen kann, dass ein Zuschauer danach sagt, „Na, das brauche ich nicht unbedingt.“ Ich bin froh, dass ich Martinů immer wieder bei den verschiedensten Gelegenheiten unterbringen konnte, hier in Wien habe ich zuletzt seine Vierte dirigieren können.

Kommen wir zurück zu Ihrer Heidelberger Zeit. Für besondere Furore sorgte das sorgsam zusammengestellte Sänger-Ensemble.

CM: Ich erinnere mich gut daran, als wir in Heidelberg bei der Vorbereitung auf den Herbst 2005 zusammensaßen und recht schnell feststellten, dass wir alle Ensemble-Fans sind. Wir waren uns einig, dass wir ein festes Opernensemble haben wollten, und die Frage war jetzt nur, in welche Stimmfachrichtungen es gehen sollte. Klar war, dass es weder sinnvoll noch finanziell machbar war, ein besonders großes Ensemble zu engagieren. So wurde ein Weg eingeschlagen, der sich im Nachhinein als günstig erwiesen hat: Das Ensemble geht aus von einem Mozart-Ensemble. Wir wollten in jeder Spielzeit eine Mozart-Einstudierung machen, angefangen mit Don Giovanni, dann Figaro, Idomeneo, Titus, Zauberflöte. Deshalb haben wir ein Ensemble für Don Giovanni engagiert. Das hat die jungen Sänger, die zum Teil ja frisch vom Studium kamen, in ihrer gesanglichen Entwicklung unterstützt – ein Wagner-Ensemble wäre absoluter Quatsch gewesen.

Geholfen hat auch, dass wir das Zusammenwirken des Musikalischen und des Szenischen gefördert haben. Wenn man Figaro zuerst musikalisch und dann szenisch miteinander probt, dann wird jeder junge Sänger aus der Vorbereitung auf sein Rollendebüt so unglaublich viel mitnehmen, dass er für sein ganzes Sängerleben davon profitieren wird. Wir haben die Vorteile des Ensembles hier in Heidelberg auch immer insofern ausgenutzt, als wir verhältnismäßig viel geprobt haben, und zwar nicht so, dass es da die eine große Figaro-Ensembleprobe gab, sondern dass wir schon früh in kleinen Einzelgruppen mit dem Probieren begonnen haben. Das Judenquintett in der Salome beispielsweise war ausschließlich aus dem Ensemble besetzt – ich weiß nicht, wie viele Stunden, Tage und Wochen wir das geprobt haben. Meine letzte Premiere in Heidelberg war Ariadne auf Naxos: Die Quintette der Komödianten hatten einige schon gesungen, aber wenn man das wirklich einmal auseinander nimmt und putzt, dann kommt schon Erstaunliches zustande. Man entdeckt Dinge, über die sonst schnell hinweg gegangen wird in der üblichen Theatermaschinerie, wo Menschen nur für kurze Zeit zusammenkommen und dann wieder auseinander gehen. Man hatte das früher häufiger als heute, dass Sänger gemeinsam auf der Bühne stehen, die sich einfach gut kennen. Gerade deshalb, weil man so viel miteinander gemacht hat, muss man dann auch nicht so viel festlegen. Ich bin kein großer Freund von Statements wie „Wir haben aber doch am 12. Mai um 17 Uhr 32 beschlossen, dass wir das soundso machen“, sondern mag es lieber, dass wir so viel miteinander musiziert haben, dass wir am Ende das Gefühl haben können, ständig miteinander zu improvisieren – wie es so schön über Zerbinetta heißt: „Sie ist eine Meisterin im Improvisieren“. Wenn man gut aufeinander eingestellt ist, dann klappt das auch gut. Das kann man nur mit einem Ensemble erreichen.

Auf anderen Kontinenten habe ich auch ein anderes System kennengelernt, in San Francisco beispielsweise, wo ich Die Entführung aus dem Serail dirigiert habe. Dort war es ganz selbstverständlich, dass man eine speziell für diese Produktion engagierte Besetzung hatte, und in Tokio gab es für den Fidelio ebenfalls eine speziell für diese Produktion engagierte Besetzung. Auch das waren schöne Erfahrungen, weil sich da die Frage, ob jede Partie auch wirklich ideal in das Fach des jeweiligen Sängers passt, gar nicht erst stellte. In einem Ensemble vertraut man einem Sänger immer mal wieder eine Partie an, auf die er nicht gerade spezialisiert ist, die er zwar singen kann, damit aber nicht ganz in seinem Fach ist. Mit lauter Gast-Sängern haben wir dann eben auch eine gewisse Zeit gebraucht, bis eine vertraute Atmosphäre unter den Sängern entstanden ist. Auf einem gewissen Level, wenn Sänger sich entschieden haben, nicht mehr einem Ensemble anzugehören, sondern freischaffend tätig zu sein, kennen sie sich oft trotzdem ganz gut, weil sie so eine Art „Weltensemble“ bilden. Gerade im Wagner-Fach ist das ja so, dass sich auf der ganzen Welt immer wieder die gleichen Sänger treffen und gewissermaßen an verschiedenen Orten gemeinsam gastieren – das ist dann auch schon beinahe wieder ein Ensemble.

Das Heidelberger Mozart-Ensemble war aber etwas ganz besonderes, es war schön, dass einige uns lange treu geblieben sind und sich dabei entwickelt haben. Sie haben ihr Fach erweitert und sind dann weitergezogen nach Frankfurt, Berlin, Weimar, und ich hatte manchmal die Freude, ein solches früheres Heidelberger Ensemblemitglied an einem anderen Ort wiederzutreffen zum gemeinsamen Musizieren.

Sie haben immer auch Operette dirigiert. Was zieht Sie zu diesem Genre?

CM: Ich habe immer alles dirigiert, was mir Spaß macht – mir macht allerdings sehr vieles Spaß! Es gibt tolle Musik, die ernst und traurig ist, aber auch tolle Musik, die einfach gute Laune macht; beides mochte ich immer sehr – das ist wie das Leben. Schon in meiner Erfurter Zeit als Korrepetitor mit Dirigierverpflichtung hatte ich im Dezember 2001 die Chance, meine erste „Fledermaus“ zu dirigieren. Das war an einem Sonntagnachmittag ohne Probe – eine gute Schule. Zwei Jahre später als Kapellmeister in Hannover hatte ich wenigstens an den „Fledermaus“-Proben teilgenommen, bevor ich im November 2003 wenige Tage vor der Premiere einspringen durfte. Später bekam ich dort die Möglichkeit, „Eine Nacht in Venedig“ zu dirigieren.

In Heidelberg habe ich mir jedes Jahr bei den Schlossfestspielen mit großer Lust Sigmund Rombergs Operette „The Student Prince“ angehört und immer gesagt: Irgendwann will ich diese mitreißende Musik zu der anrührenden Handlung auch einmal dirigieren!  Im Sommer 2011 bot sich mir eine letzte Chance, da „The Student Prince“ 2012 nicht mehr gezeigt wird. Zwei Aufführungen habe ich dirigiert, die ich beide in bester Erinnerung habe. Es gibt bei diesem Stück viele verschiedene Fassungen. Musikwissenschaftliche Akribie, die man bei anderen Stücken zur Voraussetzung nimmt, wäre da wohl verfehlt. Selbst wenn man sich für eine Version entschieden hat, ist es ganz legitim, das Stück weiterzuentwickeln. Nachdem alle Beteiligten es Jahr für Jahr aufgeführt hatten, wusste keiner mehr so recht, weshalb es nun gerade so geworden ist, wie es ist, aber es war nun einmal so. Auch im Orchester machte man Dinge, die ursprünglich gar nicht vorgesehen waren, häufig spontan in der Aufführung. Das ist eine Traditionsbildung einer Produktion in einem elementaren Sinn, die im Laufe der rund fünfzig Abende, die wir gespielt haben, entstanden ist, weil wir uns über den Notentext hinaus eine Erfahrung mit diesem Werk erworben haben. Und als „Greenhorn“ habe dann eben auch ich im Sommer 2011 damit debütiert.

Was macht „Die Fledermaus“ eigentlich zu einem so besonderen Stück?

CM: Eine gute Operettenaufführung erfordert viel handwerkliches Geschick. Die musikalische Voraussetzung ist, dass man die Pointen gut setzt und ein bestimmtes Rubato gut beherrscht, das ganz natürlich und leicht klingen muss – beides muss man verinnerlicht haben. Auch in szenischer Hinsicht kommt es darauf an, dass man auf der Bühne im Dialog die Pointen richtig setzt, was ein richtiges Geschick erfordert. Deshalb gab es früher an vielen Häusern ein eigenes Operetten-Ensemble und Dirigenten, die genau das konnten. Bei der „Fledermaus“ kommt hinzu, dass seit der Uraufführung verschiedene Notenausgaben entstanden sind, die sich teilweise weit von Johann Strauss' Handschrift entfernen.

Als ich vom Intendanten gefragt wurde, ob ich die „Fledermaus“ im Theater an der Wien dirigieren wolle, was eine unvorstellbar große Auszeichnung ist für einen Viertel-Wiener – meine Oma war ja Wienerin –, und damit auch als Operndirigent in Wien debütieren, da sagte ich: Sehr gerne, aber unter zwei Voraussetzungen. Zum einen verwenden wir bitte das Notenmaterial der Johann-Strauss-Gesamtausgabe, das sich wesentlich unterscheidet von dem Notenmaterial, das man Jahrzehnte lang verwendet hat, wie sich ja auch das Material der Mozart-Gesamtausgabe unterscheidet von dem, was man so alles verwendet hat. Nur haben sich die Urtext-Ausgaben bei Mozart mittlerweile durchgesetzt, bei Johann Strauss aber noch nicht. Die andere Absprache war, dass wir das Werk unbedingt komplett aufführen, also inklusive der Ballettmusik. Was auch immer szenisch dann dort passiert – am Theater an der Wien war gar kein Ballett beteiligt –, es ist großartige Musik, die auch die meisten „Fledermaus“-Kenner, die das Stück in- und auswendig kennen, noch nie gehört haben. Wenn wir eine Neuproduktion der „Fledermaus“ in Wien machen – diese Gelegenheit hat man sehr selten, an der Staatsoper läuft die alte Inszenierung sicher noch sehr lange – wenn man also diese Gelegenheit hat, dann ist das die Chance, die man unbedingt nutzen muss. Und es hat sich sehr gelohnt!

In Heidelberg haben Sie auch eine Familie gegründet. Nach dieser Spielzeit endet Ihr Vertrag in Heidelberg – werden Sie in der Stadt bleiben und Ihre Familie nur noch selten sehen?

CM: Ein Jahr nachdem wir nach Heidelberg gezogen sind, haben wir geheiratet – der Heiratsantrag hatte auch schon hier stattgefunden. Unsere drei Kinder sind hier in Heidelberg geboren. Wir hatten uns beide die Haltung bewahrt, im Leben einfach die Dinge auf uns zukommen zu lassen. Beide wollten wir gerne eine Familie haben, ohne dass wir darüber nachgedacht hätten, wie das mit dem Beruf zusammengehen würde. Es war ein Glück, dass ich hier war, als die Kinder noch klein waren, und nicht immer gleich wieder weg musste. Man plant in meinem Beruf ja weit voraus und kann nicht kurzfristig reagieren. Wenn beispielsweise der Kleine eine Halsentzündung bekommt und es eine harte Nacht wird, dann findet die Probe ja trotzdem am nächsten Morgen um 10 Uhr statt. Das hat aber bisher sehr gut funktioniert. Mittlerweile könnte ich mir gar nicht mehr vorstellen, ohne eine Familie zu sein. Auch über einen möglichen Umzug nach Wien haben wir noch nicht nachgedacht. Solange die Kinder noch nicht in der Schule sind, ist es mit dem Umziehen auch nicht so ein Problem. Ich könnte mir vorstellen, dass das schwieriger wird, wenn sie erst mal in der Schule sind und erste Freundschaften geknüpft haben: dann ist es nicht so leicht, alle zwei Jahre in einer neuen Stadt zu sein. Rückblickend kann ich sagen, dass das ganz glücklich gelaufen ist.

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