Gustav Mahler

«Symphonie Nr. 5 cis-Moll»
ORF Radio-Symphonieorchester Wien
Cornelius Meister

Arnold Werner-Jensen im Gespräch mit Cornelius Meister im Januar 2015

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Werner-Jensen: Herr Meister, gibt es heute nach wie vor unterschiedliche Orchester-Identitäten und wenn ja, woran lässt sich das festmachen?

Meister: Es gibt aus meiner Sicht ganz starke Unterschiede zwischen den Orchestern! Einige Orchester legen großen Wert darauf, dass neu ins Orchester kommende Kollegen aus einer ähnlichen Schule stammen. Mit dem Begriff „Schule“ meine ich nicht die Staatsangehörigkeit, sondern vielmehr, dass etwa ein neuer Geiger zuvor einige Jahre beim Konzertmeister studiert hat oder dass ein Klarinettist schon als Praktikant oder Akademist in diesem Orchester musiziert hat. Von den zukünftigen Kollegen ausgebildet, ist er bereits in einer bestimmten Spielkultur geschult, wenn er reguläres Orchestermitglied wird. Im Ausland sind dafür besonders gute Beispiele die Wiener oder auch die Pariser Orchester. Andere Klangkörper, gerade einige der erst nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten Orchester, sind möglicherweise weniger auf ein Klangideal festgelegt. Vielleicht ändert sich deren Klang schneller, je nachdem in welcher Stilepoche sie sich gerade bewegen und mit welchem Dirigenten sie zusammenarbeiten.

Bei vielen deutschen Orchestern wird in den Ausschreibungen für die Klarinette das so genannte „deutsche“ System statt des Böhm-Systems verlangt; analog dazu sucht man nach „deutschen“, nicht aber „amerikanischen“ Posaunen. Bei den Wiener Philharmonikern gibt es kaum ein Instrument, das nicht typisch „wienerisch“ ist; die wahrscheinlich bekanntesten Beispiele sind die Oboe und das Horn. Beim Wiener Radio-Symphonieorchester richten wir uns allerdings nach der Stilepoche und verwenden zum Beispiel für das romantische Repertoire die Wiener Handkurbel-Pauken, für zeitgenössische Musik aber die international üblichen Pedalpauken, die ein leichteres Umstimmen erlauben.

Sicher hört der Zuhörer auch, wenn Streicher auf millionenschweren Instrumenten spielen, die manche Spitzenorchestern ihren Musikern zur Verfügung stellen. Aber so wichtig das Instrumentarium auch ist: Vor allem kommt es auf den Spieler an. Ein weiterer klanglicher Unterschied entsteht durch die unterschiedliche Stimmhöhe verschiedener Orchester: ob ein Orchester das a auf 440 oder auf 443 Hz einstimmt. Viele amerikanische Orchester stimmen recht tief ein, die Wiener Philharmoniker hingegen spielten traditionell recht hoch.

Sind die Rundfunkorchester, die ein stilistisch sehr breites Repertoire mit viel Neuer Musik spielen, einander ähnlicher als die großen Traditionsorchester, die vorwiegend das klassisch-romantische Repertoire aufführen?

Mir fällt eher auf, dass es einen Unterschied in der Musizierweise zwischen denjenigen Orchestern gibt, die überwiegend Oper spielen, und den reinen Konzertorchestern. Heutzutage spielt zwar kaum noch ein Orchester entweder nur Oper oder nur Konzerte, aber sie unterscheiden sich stark in der Gewichtung des einen oder anderen Repertoires. Opernorchester, insbesondere, wenn sie weit auseinander disponierte Aufführungen mit wechselnden Dirigenten ohne Probe spielen, gelten als besonders spontan und flexibel. Wenn der Dirigent deutlich ist und alle Beteiligten das Werk bestens kennen und wach aufeinander hören, entstehen mitunter herausragende Abende. Dieses Wachsam-Sein schätze ich als Basis eines urtümlichen Musizierens sehr. Auf der anderen Seite gelingt eine gut geprobte, ohne größere Unterbrechungen angesetzte Aufführungsserie in der gleichen Orchesterbesetzung (so genannte „Festbesetzung“, nicht „rotierend“) häufig auf einem mehr oder weniger gleich bleibend hohen Niveau ohne größere Ausrutscher nach unten.

Besondere Fähigkeiten benötigen diejenigen Orchester, die häufig im Studio Aufnahmen produzieren. Hierbei werden – auch wenn diese Art des Produzierens seltener wird – manchmal ausschließlich einzelne, nur einige Minuten dauernde Teile aufgenommen, immer wieder und wieder. Lediglich am Ende der Aufnahmetage wird das gesamte Werk vielleicht einmal als Ganzes im Ablauf gespielt. Wie häufig ein Orchester auf Tournee geht, wirkt sich ebenfalls stark auf die Musizierkultur aus. Es ist ein großer Unterschied, ob ein Orchester immer im gleichen Saal spielt oder in wechselnden Konzerthäusern in aller Welt. Es fördert die Flexibilität, wenn die Orchestermusiker nach einer kurzen Anspielprobe in einem fremden Saal gleich darauf ein hervorragendes Konzert geben und am nächsten Morgen zum nächsten Auftritt weiterreisen.

Worin unterscheidet sich die Arbeitweise des Dirigenten bei den unterschiedlichen Orchestern?

Hier denke ich spontan an die Artikulation. Wie lang ist eigentlich ein Ton, der in den Noten auf bestimmte Weise notiert ist? Dazu hatte ich ein Erlebnis mit einem Pariser Orchester: Es ging um einen lang zu haltenden Auftakt-Ton, über den sich die meisten deutschen Orchestermusiker wohl einen Tenuto-Strich notieren würden, zur Verdeutlichung, dass keine Zäsur vor der nächsten Note erwünscht ist. In der französischen Tradition aber bedeutet ein Strich über der Note mitunter das Gegenteil, nämlich dass er leicht abgesetzt gespielt werden soll! Nicht einmal die musikalische Orthographie ist also überall auf der Welt gleich. Wie wichtig ist es daher beim gemeinsamen Musizieren, sich auf eine gemeinsame Sprache zu verständigen!

Wenn innerhalb eines Orchesters große Homogenität herrscht – wir hatten vorhin über „Schulen“ gesprochen –, beschleunigt dies sicher die Probenarbeit. Wenn es hingegen unter den Orchestermitgliedern einzelne Experten für das Barock-Repertoire gibt, andere, die sich intensiv mit Spieltechniken der Neuen Musik beschäftigt haben, wieder andere, die sich bestens im französischen, slawischen, italienischen oder skandinavischen Repertoire auskennen, dann mag dies den anderen Vorteil haben, dass der Klangkörper stilistisch besonders flexibel reagiert, gerade wenn im Orchester eine Kultur des gegenseitigen Lernens herrscht.

Es wird immer wieder darüber gesprochen, dass deutsche Orchester recht spät spielen, also erst einen Moment, nachdem der Dirigentenstab unten ist, einsetzen, während englische und amerikanische Orchester unmittelbar mit der Dirigentenbewegung spielen. Da ist etwas Wahres dran. Allerdings habe ich den Eindruck, dass die Verzögerung vor allem je nach Dirigent verschieden lang ist, mehr noch: je nachdem, welches Repertoire ein Dirigent aufführt. Bei Strawinsky wird er eine andere Schlagtechnik anwenden als bei Brahms.

Wie sehr darf und kann ein Gastdirigent ein Orchester beeinflussen oder verändern?
 
Wenn ein Orchester mit der Arbeitsweise seines ständigen Dirigenten zufrieden ist, dann wünschen sich die Mitglieder in der Regel von Gastdirigenten eine ähnliche Arbeitsweise. So ist es häufig auch bei der Wahl eines neuen Chefdirigenten: Je nach Zufriedenheit oder auch Überdruss wird eine Fortsetzung oder ein Kontrast gewählt. Die gegenseitige Anpassung kann im Idealfall sehr schnell gehen, es muss zwischen Dirigent und Orchester funken.

Sie haben sehr viele der Orchester dirigiert, die in diesem Buch porträtiert werden. Gibt es unter ihnen sehr ähnliche und solche, die sich sehr stark unterscheiden?

Aus meiner Sicht unterscheiden sie sich eigentlich alle sehr von einander. Dabei denke ich zunächst an die Musikerpersönlichkeiten: Ich musiziere als Dirigent ja nicht mit „dem“ Orchester, sondern mit hundert einzelnen Menschen, die idealerweise am gleichen Strang ziehen. Aber die Unterschiede zeigen sich manchmal auch am historischen Alter des Orchesters: Ich spüre, wenn sich ein Ensemble wie die Sächsische Staatskapelle Dresden auf eine jahrhundertelange Tradition beruft. Andererseits gibt es gerade unter den Rundfunkorchestern einige, die ihren Gründungsauftrag – nämlich neue und selten gespielte Musik aufzuführen und aufzunehmen – besonders ernst nehmen und daher in der Programmgestaltung ein unverwechselbares Profil zeigen. Leider nähern sich viele Orchester in ihrem Repertoire und ihrem Profil immer weiter an. Gerade wenn es mehrere Orchester in einer Stadt gibt, scheint es mir aber von Vorteil zu sein, wenn sie sich nicht nur in ihrer Musizierweise, sondern auch im Programm deutlich voneinander unterscheiden.

Wir sprachen bisher nur über sehr große Orchester. Wie unterscheiden sich davon die mittleren und kleineren und auch die Kammerorchester?

Lange Zeit hat man einen Zusammenhang gesehen zwischen der Anzahl der Musiker, die in einem Orchester beschäftigt sind, und der künstlerischen Qualität: Je größer, desto besser! Sicherlich ist es ein Vorteil, wenn ein Orchester alle groß besetzten Werke ohne Aushilfen aufführen kann. Und häufig geht die Anzahl der Planstellen nicht nur mit dem Gehalt der Musiker einher, sondern auch mit dem Etat für die Solisten und Dirigenten: Die Möglichkeit, herausragende Solisten und Dirigenten verpflichten zu können, wird dem Orchester zu Gute kommen. Andererseits spielen aber heute auch die meisten mittelgroßen Orchester Mahler-Symphonien. Dafür erhalten sie einen „Sachkostenetat“ – wie dieser Etat leider meistens genannt wird –, aus dem die Aushilfen bezahlt werden.

Außerdem ist mit dem Aufkommen der Originalklangbewegung die Erkenntnis gewachsen, dass „größer“ nicht unbedingt „besser“ sein muss. Ein beachtlicher Teil des klassischen Repertoires wird heute, vor allem bei den Streichern, kleiner besetzt als früher. Im Zuge dieser Entwicklung haben sich kleinere Spezialensembles gebildet, die qualitativ höchsten Ansprüchen genügen. Ähnlich verhält es sich mit hervorragenden Ensembles für Neue Musik, die sich seit einigen Jahrzehnten auf das Repertoire für zehn, zwanzig oder dreißig Spieler konzentrieren.

Wie groß ist nach Ihrer Erfahrung der Unterschied zwischen mittleren Orchestern und Spitzenorchestern?

Man könnte erwarten, dass die Einwohnerzahl der Städte mit der Größe des Orchesters einhergeht. Das stimmt aber nicht immer: Während sich die nur etwa 70.000 Einwohner der Stadt Bamberg über ein großes Spitzenorchester, die Bamberger Symphoniker, freuen können, verfügen erschreckend viele größere deutsche Städte über gar kein eigenes Berufsorchester.

Im Gegensatz zu den Spitzenorchestern verfügen kleinere Orchester häufig über weniger Tournee-Erfahrung im Ausland. Musiker aus kleineren Orchestern sind häufig zusätzlich an Musikschulen oder als private Instrumentallehrer engagiert, während einige Musiker der Spitzenorchester als Professoren an Musikhochschulen lehren oder zusätzlich weltweit als Solisten auftreten.

Wie wirken sich die Unterschiede zwischen mittleren und großen Orchestern auf die Arbeit des Dirigenten aus? Sind Sie bei einem Orchester der mittleren Tarifklasse stärker als „Erzieher“ gefordert? Wollen Spitzenorchester überhaupt „erzogen“ werden, etwa im Hinblick auf den Klang oder die Präzision?

Alle Orchester, egal welcher Größe, seien es Berufs-, seien es Amateurorchester, eint die Liebe zur Musik und die Beschäftigung mit der mehr oder weniger gleichen Literatur. Deshalb ist der Arbeitsalltag der Berufsorchester verhältnismäßig ähnlich. Ein weniger berühmtes Orchester hat üblicherweise keineswegs mehr Proben zur Verfügung als ein Spitzenorchester. Hier scheint es mir eher Unterschiede zwischen den Ländern und Kontinenten zu geben. In England zum Beispiel ist es nicht ungewöhnlich, eine Generalprobe am Nachmittag vor dem Konzert zu spielen. In den USA wird – nicht in der Oper, aber vor Konzerten – häufig weniger geprobt als in Deutschland.

Es mag neben geographischen Erwägungen viele Anreize für einen Musiker geben, sich gleich nach dem Studium (häufig sogar: noch im Studium) oder aus einem kleineren Orchester heraus bei einem Spitzenorchester zu bewerben: Man musiziert mit anderen hervorragenden Orchestermusikern und Dirigenten zusammen; man reist um die Welt, ist vielleicht sogar, nicht zuletzt durch verschiedene Internetangebote, selbst in fernen Ländern ein Star; möglicherweise spielt auch die höhere Gage eine Rolle. Es ist eine Binsenweisheit, dass es auf diese Weise zu Qualitätsunterschieden unter den Orchestern kommt – wenngleich Qualität in der Musik glücklicherweise jeder ganz unterschiedlich bestimmt und es daher legitim ist, wenn die Meinungen, welches Orchester denn nun besonders gut oder schlecht sei, weit auseinander gehen.

Die Orchester bevorzugen oft eine bestimmte Sitzordnung: Wie festgelegt ist so etwas, haben Sie als Gast die Möglichkeit, das zu ändern?

Zu diesem Thema gibt es sehr unterschiedliche Dirigentenmeinungen. Die Sitzordnung hat nicht nur für den Klang, der das Publikum erreicht, Bedeutung, sondern auch dafür, wie sich die Musiker auf der Bühne untereinander hören. Es ist also ein großer Unterschied, ob die Hörner beispielsweise rechts oder links von den Holzbläsern sitzen oder hinter ihnen. Die Positionierung entscheidet darüber, wie früh oder spät ein Hornist spielen muss, damit sein Ton vorne „pünktlich“ ankommt. Sein Ton geht ohnehin erst einmal durch die Windungen des Instrumentes, dann durch den nach hinten gerichteten Schalltrichter gegen die Wand und von da aus zum Publikum. Insofern bedeutet eine Veränderung der Sitzordnung für den einzelnen Musiker eine spürbare Umstellung.

Wichtig sind auch die unterschiedlichen Eigenschaften der Säle: Im Wiener Musikvereinssaal spielen die Kontrabässe zum Beispiel traditionell hinter den Bläsern, weil die Holzwand in ihrem Rücken eine fantastische Resonanz ergibt. Außerdem ist die dortige Bühne verhältnismäßig wenig tief, verfügt aber über eine ziemlich steile Höhenstaffelung. Viele Dirigenten sind daher immer wieder überrascht, wie nah man den Holzbläsern und auch den Kontrabässen ist. Wenn ich bei einem Orchester den Eindruck habe, dass es nicht festgelegt ist, empfehle ich üblicherweise eine Sitzordnung, die mir für das Programm, das wir gemeinsam aufführen werden, angemessen erscheint. Aber ich würde nicht auf einer bestimmten Sitzordnung bestehen.

Bei meinem Vorschlag für die Streichersitzordnung orientiere ich mich daran, wie jenes Orchester gespielt hat, für das ein Komponist sein Werk geschrieben hat. Dies gibt aus meiner Sicht entscheidende Hinweise zur Frage, ob die Zweiten Violinen neben den Ersten (bei vielen amerikanischen Komponisten) oder gegenüber (zum Beispiel bei Gustav Mahler) sitzen sollen. Eine besondere Sitzordnung hat im Graben des Bayreuther Festspielhauses Tradition: Dort sitzen die Ersten Violinen rechts vom Dirigenten und die Zweiten links, da dies der besonderen Akustik des Raumes entspricht.

Im Übrigen geht es bei der Aufstellung auch um Orchester-Psychologie. Neulich habe ich ein Werk von John Cage aufgeführt: „Quartets for an orchestra of 93 players“. Von den 93 spielen stets nur vier Musiker gleichzeitig; manche tragen zum ganzen Stück nicht mehr als vielleicht fünfzehn einzelne Töne bei und warten dazwischen viele Minuten auf ihren nächsten Einsatz. Wir haben einen Bühnenplan erstellt, durch den niemand dort saß, wo er gewöhnlich sitzt. Dieses Experiment hat im Orchester enorm viel bewegt und Gewohnheiten hinterfragt. So spielen auf einmal auch diejenigen solo, die sonst am vierten Pult im Tutti mitwirken; man sitzt neben einem Kollegen, den man sonst nie hat spielen hören; man sieht den Dirigenten aus einer ganz anderen Richtung.

[Abgedruckt in: Arnold Werner-Jensen, Die großen deutschen Orchester. Laaber 2015]

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